Frustrationstoleranz

Aus 2 x 2 der Erziehung
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Frustrationstoleranz wird zwar erst mit der Sozialisation zum Thema, das heisst, wenn sich das Kind auch ausserhalb der Familie soll behaupten können. Allerdings werden die Voraussetzungen dafür bereits in den ersten, alles entscheidenden Phasen der Erziehung geschaffen. Die Fähigkeit, mit Misserfolgen oder unerfüllten Wünschen und Erwartungen umzugehen, erwirbt das Kind, wenn es in den ersten Jahren einerseits genügend Selbstvertrauen aufbauen konnte und andererseits lernen konnte, seinen Willen als konstruktive und kreative Kraft einzusetzen. Voraussetzung ist deshalb, dass die Eltern lernten, zunächst dem Kind zu vertrauen, indem sie zu ihm möglichst uneingeschränkt "Ja" sagten, und danach lernten, angemessen auf seinen Willen zu reagieren, also auch "Nein" zu sagen, wenn das Kind eine Grenze überschreitet. Oder anders gesagt: das Kind sollte idealerweise weder überfordert noch unterfordert werden.

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Vertrauensbildung (bis etwa 2 Jahre)

Kleinkinder kennen schon allein deshalb keinen Frust, weil sie weder Wünsche noch Erwartungen oder gar irgendwelche Absichten haben, sondern ausschliesslich Grundbedürfnisse. Der grosse Unterschied liegt darin, dass Grundbedürfnisse immer und möglichst sofort befriedigt werden sollten, während zum Beispiel Wünsche an sich schon in die Zukunft gerichtet sind und ihre Erfüllung auch noch warten kann. Kleinkinder leben noch voll im Hier und Jetzt und haben also noch gar keine Vorstellung von einer Zukunft. Sie sollten deshalb immer und möglichst sofort reagieren, wenn dem Kind etwas fehlt: Nehmen Sie das Kind zum Beispiel zu sich, wenn es danach verlangt (lassen Sie es aber auch wieder ziehen, wenn es genug hat). Gerade wenn ein Kind in diesem Alter einen Entwicklungsschritt gemacht hat, braucht es wieder die Versicherung, dass jederzeit zu ihm geschaut wird. Es will zum Beispiel nicht bloss gehalten werden, weil es müde ist, sondern weil es Ihre Nähe braucht. Bieten Sie ihm aber umgekehrt auch nichts zu essen, wenn es nicht danach verlangt, sondern vertrauen Sie ihm, dass es seine Bedürfnisse selbst anzeigen kann. So brauchen Sie in dieser Zeit auch keine Angst zu haben, das Kind zum verwöhnen, sondern legen die Grundlage dafür, dass es später, wenn seine Wünsche und Absichten weit über die Grundbedürfnisse hinausgehen, damit umgehen kann, dass es nicht alles bekommen kann: Es hat die Erfahrung in sich, dass es das, was es für sein Gedeihen und Wohlbefinden braucht, auch erhält.

Zu den Grundbedürfnissen zählen nicht bloss Bedürfnisse wie Gestillt werden oder Schlaf, sondern auch Geborgenheit und vor allem Trost. Denn die kindlichen Erfahrungen umfassen auch einiges an Missgeschicken und Misstritten. Trauer und Schmerz verlangen daher immer sofort und ausreichend Trost, und zwar ohne Erklärungen oder gar Vorwürfe. Nur wenn das Kind in jeder Situation wirklich angenommen wird, fühlt es sich in seinem Vertrauen in die Eltern bestätigt und kann entsprechendes Selbstvertrauen aufbauen. Dieses Vertrauen ist Voraussetzung dafür, um später auch mit tatsächlichen Misserfolgen oder unerfüllten Wünschen umgehen zu können: Das Kind hat die Erfahrung gemacht, dass es deswegen nicht etwa schlecht ist oder nicht mehr geliebt wird, sondern kann geduldig bleiben und auf seine nächste Chance vertrauen.

Schwierig wird es für das Kind, wenn Eltern in den ersten Jahren zu wenig Geduld für das Kind aufbringen können. Wenn vom Kind zum Beispiel gefordert wird, "nicht wegen jedem kleinen Mist zu schreien", ist es zumindest in den ersten beiden Jahren überfordert und fühlt sich in seinem Vertrauen in die Eltern zu wenig bestätigt: Es kann sich eben bloss mit Schreien äussern und es kann noch nicht verstehen, dass es bloss warten muss, bis Sie fertig telefoniert haben! Wenn das Kind in dieser Zeit immer wieder nicht erhält, was es braucht, wird sein von Natur aus vorhandenes Vertrauen in das Leben nicht bestätigt und irgendwann wird es verinnerlichen, dass ausgerechnet es immer zu kurz kommt. Es wird dann auch später immer noch wie ein Kleinkind reagieren, wenn es nicht erhält, was es sich wünscht, da es das Vertrauen verloren hat, das zu bekommen, was es braucht. Das Problem dabei ist, dass es dann mit dem gleichen Frust reagiert, unabhängig davon, ob es das Notwendige nicht erhält, oder bloss seine Wünsche nicht in Erfüllung gehen. Seine Umwelt wird aber für seine unerfüllten Wünsche nur noch wenig Verständnis aufbringen und sich genervt fühlen und ihm dies zu spüren geben. So kommt zum Frust dann auch noch das Gefühl dazu, nicht verstanden zu werden, sodass das Kind zum Beispiel durch nerviges Stören auf sich aufmerksam machen muss: Der Teufelskreis ist perfekt.

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Willensbildung (etwa 2 bis 4 Jahre)

Konnte das Kind bis jetzt genügend Selbstvertrauen aufbauen, ist es bereit zu lernen, mit seinem Willen nicht nur kreativ, sondern auch konstruktiv umzugehen. Anfangs glauben viele Kinder, dass sie mit dieser Kraft alles erreichen können und behaupten zum Beispiel ohne weiteres, nächstens auf den Mod zu fliegen: Sie kennen weder Grenzen noch sonstige Hindernisse, die ihren Phantasien im Wege stehen könnten. Keine Herausforderung ist ihnen zu gross oder zu knifflig. Es ist interessanterweise auch die Zeit, in der ein Mensch über die grösste Lernfähigkeit überhaupt verfügt (sodass manche Eltern auf die Idee kommen, sie hätten es womöglich mit einem hochbegabten Kind zu tun).

Als Eltern müssen Sie nun aber auf der Hut sein: Lassen Sie Ihre Kinder die selbst gewählten Herausforderungen angehen, so übermütig diese Ihnen auch erscheinen mögen (es sei denn, es drohen wirkliche Gefahren). Achten Sie dabei aber aufmerksam darauf, ob das Kind eine Grenze überschreitet, die Ihnen wichtig ist. Denn dann müssen Sie sofort und konsequent reagieren, ansonsten das Kind solange weitersuchen wird, bis es die Grenze selbst gefunden hat, beziehungsweise ihm von der Umwelt gezeigt wird. Wenn das Kind zum Beispiel auf die Idee kommt, mit dem Auto auf den Mond zu fliegen und schon mit dem Autoschlüssel unterwegs ist, müssen Sie mit einem laut und deutlich ausgesprochenen "Nein" reagieren und konsequent dabei bleiben. Dabei werden Sie auch lernen müssen, auf allfälliges Toben des Kindes angemessen zu reagieren, denn ein Kind, das diese enorme Willenskraft gerade erst frisch entdeckt hat, wird nicht so schnell aufgeben! Und das ist auch gut so: es soll erfahren dürfen, was es alles erreichen kann, wenn es bloss will, es soll aber auch erfahren, dass es dabei an natürliche Grenzen oder an Grenzen seiner Umwelt stossen kann. Im letzteren Fall ist es entscheidend, dass es sich nach der Konfrontation wieder versöhnen kann. Damit zeigen Sie ihm, dass es auch dann noch geliebt wird, wenn es mit Ihrem Willen kollidiert. Nur so wird das Kind lernen, mit seinem Willen geschickter umgehen zu können und Respekt entwickeln können. Genau das aber ist Voraussetzung, um mit Misserfolgen, unerfüllten Wünschen und unerreichbaren Zielen umgehen zu können.

Fsrustrationstoleranz lernt das Kind also in den ersten, alles entscheidenden Phasen der Erziehung und ist für die nächsten Phasen von grösster Bedeutung. Denn unsere Gesellschaft, gerade auch das Bildungssystem, sind leider alles andere als kindgerecht (was früher im übrigen nur teilweise besser war, in vielen Belangen sogar eher schlechter!). So verlangt zum Beispiel die Schule häufig schon in der Grundstufe von Kindern, dass sie nach einem Lehrplan lernen können, der selten ihren individuellen Lernbedürfnissen entspricht. Wenn ein Kind dann nicht auch damit umgehen kann, dass es Dinge lernen muss, von denen es höchstens geringen Nutzen hat, wird es möglicherweise schnell frustriert sein oder gar resignieren. Hat es hingegen schon zuvor gelernt, mit der Unbill des Lebens umzugehen, wird es nicht gleich beim ersten Widerstand aufgeben.

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Herausforderungen, Überforderung und Unterforderung

Kinder suchen und brauchen Herausforderungen. Und wenn Sie sich vorstellen, wie hilflos ein Kind zur Welt kommt und was es schon nach kurzer Zeit alles kann, ist es schlicht ein Wunder, welche Herausforderungen ein Kind in derart kurzer Zeit schon gemeistert hat. Entscheidend ist allerdings weniger, wieviel ein Kind lernt, sondern dass es von Natur aus immer genau das lernt, was es für sein Leben gerade braucht. Kommt hinzu, dass alle Fähigkeiten bereits in ihm schlummern, es also bloss noch die Freiheit braucht, diese seine eigenen Fähigkeiten zu entfalten. Lassen Sie es deshalb zumindest in den ersten Phasen der Erziehung wann immer möglich frei entscheiden, was es lernen möchte. Je mehr ein Kind in dieser Zeit nach dem Lustprinzip sich entwickeln darf, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass es später nicht so schnell die Lust verliert, wenn es auch in Pflichtfächern ein Mindestmass an Leistung erbringen muss.

Ermuntern Sie das Kind zum selbst ausprobieren und muten Sie ihm auch einmal etwas zu, wenn es anfänglich noch zögert. Die Kunst ist, das Kind dabei weder zu überfordern noch zu unterfordern. Das mag häufig ein Seiltanz sein, doch dürfen Sie ruhig auch selbst probieren, was das Kind aufnimmt und was es ablehnt. Ein hervorragendes Übungsfeld ist zum Beispiel Klettern, sei es auf dem Spielplatz, sei es in der freien Natur: Lassen Sie ruhig schon das Kleinkind entscheiden, wie weit es gehen mag, respektieren Sie aber auch, wenn es sich ängstigt und nicht weiter gehen will. Und sagen Sie ihm auch, wenn Sie sich selbst ängstigen, weil Sie fürchten, dass es runterfallen könnte und Ihnen lieber wäre, dass es inne hält. Fragen Sie auch immer, ob es Ihre Hilfe wirklich braucht, bevor Sie einfach nachhelfen. Schon Kleinkinder haben ein hervorragendes Gespür für das, was sie sich beim klettern zumuten können und was nicht.

Um wachsen zu können, brauchen Kinder Herausforderungen, ansonsten ihnen die Motivation früher oder später abhanden kommen wird. Sind die Herausforderungen entweder zu gross oder zu klein, können sie mit Frust reagieren. Da sich Kinder in den ersten Jahren von sich aus grundsätzlich nur das zutrauen, was sie auch meistern können, dürfen Sie sie einfach machen lassen. Wenn Sie dem Kind hingegen Dinge abnehmen, die es auch selbst könnte, oder umgekehrt Dinge erwarten, die es überfordern, kann es nicht mehr seinen Fähigkeiten entsprechend handeln und reagiert zum Beispiel mit Ärger oder Resignation. Das mindert die Frustrationstoleranz, über die das Kind spätestens mit der Sozialisation sollte verfügen können. Denn in einer Gruppe wird das einzelne Kind nicht mehr dauernd im Mittelpunkt stehen können, wie es sich das vielleicht in der Familie gewohnt war. Seine Bedürfnisse stehen dann sozusagen im Wettbewerb mit anderen. Und auch der Lehrplan wird selten individuell zugeschnitten sein können. Nur ein genügend reifes Kind kommt mit solchen "Widrigkeiten" klar.

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Verlust und Ersatzbefriedigung

Gerade in den ersten Jahren erleben Kinder immer wieder die "Unbill des Lebens" wie Missgeschicke, Misserfolge, ein "verunglücktes" Kuscheltier, Abschied von liebgewonnenen Menschen und ähnliches. Für Kleinkinder können solche Erlebnisse existenziellen Charakter annehmen, da sie zum einen noch voll im Hier und Jetzt leben und deshalb weder eine Vorstellung davon haben, dass die Mutter wieder zurückkommt, noch dass das Kuscheltier wieder "geheilt" werden kann. Zum anderen ist das Universum des Kindes noch sehr begrenzt. Wenn also zum Beispiel die geliebte Patentante wieder gehen muss, ist das nicht bloss einer von tausenden Bekannten, sondern es war vielleicht gerade der einzige Mensch, dem sich das Kind in den Stunden zuvor uneingeschränkt gewidmet hat. Der Verlust wiegt also ungleich schwerer als wenn sich zwei erwachsene Menschen verabschieden müssen. Wenn das Kind in einem solchen Moment herzzerreissend zu schreien beginnt, müssen Sie ihm unbedingt vertrauen, dass es wirklich schlimm für es ist! Es ist hilft wenig und ist sogar kontraproduktiv, wenn Sie es in solchen Momenten mit Worten ("Das ist doch nicht so schlimm!") zu vertrösten versuchen oder ihm einen Ersatz anbieten ("Du darfst dafür noch ein Video schauen."). Das einzige, was ein Kind braucht, ist wirklicher Trost, sofort und bedingungslos: Nehmen Sie das Kind in die Arme und warten Sie schweigend, bis es sich wieder beruhigt hat. Der elterliche Trost hilft bei jedem Schmerz! Sie werden staunen, wie schnell sich das Kind danach wieder etwas anderem zuwenden kann und gleich alles Schreckliche bereits wieder vergessen hat. Solche Erfahrungen stärken den Glauben des Kindes, dass ihm immer geholfen wird, gleich wie gross der Schmerz oder die Trauer auch sein mögen. Dieses Vertrauen in das Leben stärkt wiederum die Frustrationstoleranz.

Wird das Kind hingegen bloss vertröstet, kann es den Schmerz nicht wirklich heilen und wird ihn auch nicht einfach vergessen können. Wohl ist es unter Umständen möglich, das Kind mit etwas anderem abzulenken, doch wirkt das gewissermassen wie ein Schmerzmittel, von dem es jedes Mal eine noch höhere Dosis brauchen wird. Der Schmerz selbst wird dadurch aber nicht geheilt. Das Kind wird ganz im Gegenteil auf jeden neuen Schmerz noch empfindlicher reagieren, sodass der Teufelskreis perfekt wird. Wird das Kind grösser, wir von ihm zudem erwartet, dass es mit den kleineren Widrigkeiten des Lebens auch selbst zu recht kommt. Das kann es dann aber auch nicht, weil es nie erfahren konnte, dass Schmerz und Trauer heilbar sind. Entsprechend tief wird seine Frustrationstoleranz sein.

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Weiterführende Themen

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Übergeordnetes Thema

Vertrauensbildung (erstes Phase der Erziehung)

Fragen und Feedback

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