Grenzen des Kindes

Aus 2 x 2 der Erziehung
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Auch wenn die Geburt eine absolut fundamentale Grenzerfahrung für das Kind ist, fühlt es sich zunächst noch weitgehend eins mit sich und seiner Umwelt, kennt also kaum Grenzen. Doch spätestens wenn es zwischen "Ich" und "Du" zu unterscheiden beginnt, was anfangs noch eine grosse Herausforderung ist, entwickelt es ein Gefühl für Grenzen. Typischerweise fremdeln Kinder in dieser Zeit auch, da sie die Erfahrung des Getrenntseins anfangs ängstigt. Die Grenzen des Kleinkindes sind während den ersten Jahren noch sehr subtil und verlangen von den Eltern grosse Aufmerksamkeit, gerade im Hinblick darauf, dass Sie spätestens mit Beginn der Willensbildung Ihrerseits auf die Einhaltung von Grenzen werden pochen müssen.

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Vertrauensbildung (bis etwa 2 Jahre)

Das Kind kommt gewissermassen grenzenlos zur Welt, denn es ist während der Schwangerschaft mit der Mutter vollkommen eins. Doch ist offensichtlich schon seine Geburt eine erste und vor allem elementare Grenzerfahrung: es verlässt den Mutterleib und in die grosse, weite Welt. Die Grenzen des Kindes mögen in den beiden ersten Lebensjahren noch sehr subtil sein, doch sollten Sie als Eltern gerade deshalb umso mehr aufmerksamer sein. Denn das Kind kann sich ja mit seinen noch bescheidenen körperlichen Kräften kaum wehren. Wenn es zum Beispiel gestillt wird, hat es irgendwann genug und wird es bloss mit seiner Mimik, später auch seiner Gestik, mitteilen können. Selbst Liebkosungen können ihm zu viel werden. Und nicht jedes Kind braucht gleich viel Nähe.

Respektieren Sie die Grenzen des Kindes von Anfang an, dann fühlt sich das Kind in seinem Vertrauen in Sie bestätigt und kann entsprechend Selbstvertrauen entwickeln. Essen und Schlafen sind dafür die besten "Übungsfelder": Zwingen Sie das Kind nie irgend etwas auszuessen oder länger oder kürzer zu schlafen, als es mag. "Zwangsbeglückung" kann sich schnell kontraproduktiv auswirken: Wenn das Kind spürt, dass Sie seine Grundbedürfnisse einfach übergehen, wenn auch in vermeintlich bester Absicht, wird es sein Vertrauen in Sie verlieren und Ihnen auch dann nicht mehr so leicht vertrauen, wenn es eigentlich sinnvoll wäre.

Besonders aufmerksam sollten Sie sein, wenn es um Liebkosungen geht. Wenn das Kind zum Beispiel nicht gehalten werden will, müssen Sie es loslassen. Einzig wenn dem Kind wirkliche Gefahren drohen, müssen Sie es natürlich auch gegen seinen Willen schützen. Allerdings sind die meisten Gefahren doch ziemlich harmlos, können also nicht zu eigentlichen Verletzungen führen, sodass Sie sich mit Ihren Interventionen möglichst lange zurückhalten sollten. Denn wenn Sie zu schnell eingreifen, nehmen Sie ihm die Erfahrung, die es braucht um lernen zu können, das heisst, Sie würden es in seiner Entwicklung behindern. Nehmen Sie also besser in Kauf, dass es sich gelegentlich weht tut, geben Sie ihm dafür immer und sofort Trost. Wirklicher und bedingungsloser Trost ist eines der besten Mittel der Vertrauensbildung.

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Willensbildung (etwa 2 bis 4 Jahre)

Wenn das Kind beginnt seinen Willen zu entwickeln, in der Regel etwa im dritten Lebensjahr, wird es nicht mehr bloss mit subtiler Mimik oder Gestik signalisieren, wann es ihm zu viel ist. Das Kind wird seine Grenzen, häufig von einem Tag auf den anderen, mit grösster Vehemenz verteidigen. Während es zum Beispiel bisher nach dem Essen mit Ihnen kuscheln wollte, wehrt es sich plötzlich gegen jede Berührung. Das ist zunächst ein Zeichen seiner gesunden Entwicklung! Und auch in dieser Phase der Erziehung müssen Sie seine Grenzen respektieren. Allerdings müssen Sie auch lernen, wo der Unterschied liegt zwischen "Grenze verteidigen" und "Wille durchsetzen", denn schliesslich haben ja auch Sie Ihre berechtigten Grenzen. Wenn das Kind zum Beispiel etwas nicht essen will, weil es ihm nicht schmeckt, setzt es eine Grenze (die zu respektieren ist). Wenn das Kind aber zum Kühlschrank läuft und sich mit etwas anderem versorgen will, versucht es seinen Willen durchzusetzen. In diesem Fall müssen Sie sich als Eltern zunächst klar sein, was Sie selbst wollen: Sind Sie bereit, dem Kind etwas anderes zu geben? - Und wenn JA: Sind Sie bereit, dass das Kind sich einfach selbst bedient? - Oder sind Sie der Meinung, dass das Kind auf das Essen verzichten soll, wenn es ihm nicht schmeckt (im Wissen darum, dass es deswegen nicht gleich verhungern wird). Im letzteren Fall müssen Sie sich wehren, das heisst Ihrerseits dem Kind eine Grenze setzen, indem Sie laut und deutlich "Nein!" sagen. In aller Regel genügt das, wenn Sie selbst wirklich überzeugt von Ihrer Haltung sind diese auch entsprechend aussprechen (Sie dürfen, ja müssen unter Umständen sogar, auch sehr laut und deutlich werden!). Notfalls können Sie sich auch vor den Kühlschrank stellen, um das Kind von der Selbstbedienung abzuhalten. In diesem Fall werden Sie vermutlich ein tobendes Kind aushalten müssen, da das Kind mit seinem Willen an Ihnen abprallt. Warten und schweigen (!) Sie so lange, bis sich das Kind von selbst beruhigt hat. Wichtig ist dabei, dass Sie in einer wohlwollenden Haltung dem Kind gegenüber verbleiben: Vertrauen Sie darauf, dass Sie gerade dabei sind, etwas vom wichtigsten überhaupt für Ihr Kind zu tun, nämlich ihm eine Grenze zu setzen (und deswegen nicht etwa "böse" sind). Erst wenn das Kind wieder von sich aus auf Sie zukommt, können Sie mit ihm besprechen, um was es ging (häufig ist das aber gar nicht mehr nötig, da es schlicht um einen kleinen Machtkampf ging und weniger darum, ob das Essen dem Kind schmeckt oder nicht!). In der Regel werden Sie staunen, wie versöhnt Sie plötzlich wieder mit Ihrem Kind sind. Und das Kind konnte erfahren, dass Sie zwar seinen Willen respektieren, dass diesem aber auch Grenzen entgegenstehen können. Und vor allem: Dass es "trotzdem" geliebt wird!

Grenzen können Sie dem Kind schliesslich nur dann setzen, wenn Sie zuvor auch ein tragfähiges Vertrauensverhältnis aufbauen konnten. Ansonsten werden Sie (und häufig auch das Kind) bei jeder Konfrontation grosse Angst vor einem Liebesentzug haben. Gerade deshalb ist es so entscheidend, dass Sie schon in der ersten Phase des Kindes Ihrerseits die Grenzen des Kindes respektierten, ansonsten dem Kind das notwendige Vertrauen zu Ihnen fehlt. Zudem nimmt das Kind Sie ja unweigerlich zum Vorbild. Wenn Sie es also selbst nicht so genau nehmen mit dem Respekt gegenüber den Grenzen des Kindes, können Sie umgekehrt auch keinen Respekt erwarten.

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Sozialisation bis Pubertät (etwa 4 bis 16 Jahre)

Spätestens mit der Sozialisation wird das Kind seine Grenzen auch gegenüber Dritten wie Kameraden, Lehrern oder Nachbarn behaupten müssen. Entscheidend ist in dieser Phase, dass Sie als Eltern meistens nicht mehr dabei sind. Das heisst, Sie sollten sich darauf verlassen können, dass sich das Kind weitgehend selbständig schützen kann, oder anders gesagt, genügend reif ist. Reif ist das Kind, wenn es bereits genügend Selbstvertrauen aufbauen konnte und dabei auch seine Umgebung respektieren kann. Dann wird es auch "Nein!" (oder "Stop!") sagen können, wenn es nötig ist. Das wiederum ist der weitaus beste Schutz gegen jegliche Art von Missbrauch!

Während der Pubertät grenzen sich dann viele Jugendliche ziemlich aktiv gegen ihre Eltern ab. Das hat vor allem mit der Selbstfindung zu tun: Der Jugendliche will wissen, wer er ist, was er werden will - und natürlich auch was er nicht will. Gerade für das, was er nicht will, müssen dann häufig die Eltern als Projektionsfläche herhalten, indem alles, was von ihnen kommt, absolut und vehement abgelehnt wird. Als Eltern sollten Sie dabei eine gewisse Gelassenheit und Güte aufbringen können und sich bewusst sein, dass diese Abgrenzung nicht gegen Sie persönlich gerichtet ist, sondern ganz einfach zum natürlichen Ablösungsprozess gehört. Ganz abgesehen davon ist Ihre eigentliche Erziehungsarbeit sowieso schon längstens vorbei, das heisst, Sie haben kaum mehr Einfluss auf die Entwicklung des Jugendlichen.

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Grenzen trennen und verbinden zugleich

Grenzen haben zwei scheinbar widersprüchliche Eigenschaften: sie trennen und verbinden zugleich. Nehmen Sie zum Beispiel zwei Länder: nur wenn diese durch eine Grenze getrennt sind, können sich ihre Territorien auch berühren, während Länder ohne gemeinsame Grenze auch keinen Berührungspunkt haben! In Beziehungen, und erst recht in der Erziehung, verhält es sich genau gleich: Sobald Sie Ihr Kind berühren, spüren Sie auch seine Grenze, nämlich seine Haut. Und umgekehrt kann eine Berührung erst dann erfolgen, wenn auch eine Grenze da ist. Und es gilt sogar für den Fall, dass die eine Person die andere abwehrt, indem sie eine Grenze setzt ("Nein!"): genau in diesem Moment entsteht ein Kontakt und somit Beziehung. Werden Grenzen hingegen einfach ignoriert, kann auch kein Kontakt entstehen, es ist dann vielmehr so, wie wenn ein Boxer seine Fäuste in die Luft schlägt: der Widerstand fehlt und er läuft wortwörtlich ins Leere. Kinder brauchen solche Grenzen noch viel mehr, ansonsten sie keine Herausforderungen mehr haben und sich nicht mehr entwickeln können!

Grenzen sind also immer gemeinsam, sie gehören nicht dem einen oder anderen, sondern sind vielmehr genau zwischen beiden, also eigentlich das Gemeinsamste überhaupt! In Beziehungen geht es denn auch darum, die Grenzen gemeinsam zu finden. Mit Kindern heisst das, Regeln abzumachen beziehungsweise zu zu vereinbaren. Die Verantwortung dafür, dass es Regeln gibt und dass deren Einhaltung auch kontrolliert wird, liegt aber zumindest in den ersten Jahren einzig bei Ihnen. Erst mit der Zeit werden Kinder von sich aus ebenfalls auf Regeln pochen und Sie an deren Einhaltung erinnern.

Der gegenseitige Respekt für Grenzen setzt schliesslich Vertrauen voraus, denn ohne dieses würde dauernd Angst vor einem Liebesverlust entstehen, sobald der Eine dem Anderen "Nein!" sagt. Das gilt nicht nur in Beziehungen, sondern noch viel mehr in der Erziehung. Erst wenn Sie es geschafft haben, das Vertrauen des Kindes durch Ihr eigenes Vertrauen in das Kind zu bestätigen, entsteht eine tragfähige Grundlage. Der Vorteil in der Erziehung ist dabei immerhin der, dass Sie sich während den beiden ersten Jahre fast ausschliesslich um die Vertrauensbildung kümmern können und erst danach auch noch um die Willensbildung, während bei einer Beziehung unter Erwachsenen beide Ebenen gleichzeitig zu berücksichtigen sind.

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Grenzen des Kindes und Missbrauch

Kinder sind sehr offen und neugierig, was sie besonders anfällig für Missbrauch, also Grenzüberschreitungen, macht. Wie anfällig sie tatsächlich werden, hängt allerdings weitgehend von Ihrem Verhalten während den beiden ersten, alles entscheidenden Phasen der Erziehung ab: Je besser Sie gelernt haben, die Grenzen des Kindes zu respektieren, desto intakter ist das Gespür des Kindes für seine eigene Grenzen und somit für die Gefahr, dass diese überschritten werden können. Bleiben Sie also aufmerksam und respektieren Sie das "Nein!" des Kindes genau so, wie Sie es selbst auch erwarten.

Werden die Grenzen des Kindes hingegen von den eigenen Eltern immer wieder missachtet, wird das Kind dieses Verhalten irgendwann als normal empfinden, da es seine Eltern ja zum Vorbild nimmt. Und je mehr es dieses Verhalten verinnerlicht, desto mehr wird es Schwierigkeiten mit dem Thema Grenzen haben. Je nach seiner Persönlichkeit wird es Mühe haben, Grenzen anderer zu respektieren, seine eigenen Grenzen zu verteidigen, oder gar beides zusammen.

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Weiterführende Themen

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Übergeordnetes Thema

Willensbildung (zweite Phase der Erziehung)

Fragen und Feedback

Das "Zweimalzwei der Erziehung" ist zum Teil noch im Aufbau. Allfällige Fragen oder Feedback sind willkommen: Email

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