Toben

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Wenn ein Kind beginnt seinen eigenen Willen zu entwickeln, in der Regel etwa im dritten Lebensjahr, entdeckt es eine ungeheure Kraft, die aber noch ziemlich roh ist. Wenn es mit dieser ungestümen Kraft auf einen Widerstand stösst, wird es zunächst einmal mit Wut reagieren, da es seinen Willen nicht durchsetzen konnte. Das ist völlig normal und ein Zeichen seiner gesunden Entwicklung! Allerdings liegt es in der Verantwortung der Eltern, auf das Toben des Kindes angemessen zu reagieren.

Vertrauensbildung (bis etwa 2 Jahre)

Während den ersten beiden Jahren beschränkt sich der Wille des Kindes praktisch noch auf den Lebenswillen, das heisst, es genügt ihm, wenn seine Grundbedürfnisse befriedigt werden. Sobald es aber zu laufen beginnt, wird sein Aktionsradius schon wesentlich grösser und man spricht denn auch gerne von einer kleinen Autonomiephase. Wenn das Kind zum Beispiel irgendwo hinlaufen will und Sie es - aus welchem Grund auch immer - daran hindern, kann es durchaus schon in diesem zarten Alter mit Wut reagieren. Allerdings wird es sich in der Regel auch ziemlich schnell wieder von den Eltern besänftigen und überzeugen lassen, mit ihnen auf den "richtigen Weg" zu kommen. Dazu genügt meistens schon ein mit Überzeugung ausgesprochenes "Nein!".

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Willensbildung (etwa 2 bis 4 Jahre)

Ganz anders sieht es aus, wenn Kinder ihren eigenen Willen zu entwickeln beginnen, in der Regel etwa im dritten Lebensjahr: Dieser Wille ist anfangs eine ungeheure und rohe Kraft, die zudem urplötzlich und sozusagen aus dem Nichts heraus im Kind förmlich explodiert. Und wäre das nicht schon genug, geschehen solche Ausbrüche auch noch regelmässig im "ungünstigsten" Moment. Unvorbereitete Eltern werden dann prompt auf dem falschen Fuss erwischt und wissen häufig nicht mehr ein und aus: Alles Zureden, Verständnis aufbringen und ähnliches bringen nichts, ja verschlimmern alles nur noch.

Sie tun deshalb gut dran, sich auf diese Situationen so gut wie möglich vorzubereiten, indem Sie sich zunächst die Gründe kennenlernen, um was es überhaupt geht und danach lernen, angemessen zu reagieren:

Gründe zum Toben

Grundsätzlich gibt es für ein Kind zwei verschiedene Gründe zu toben:

  • Grenzüberschreitungen der Eltern: Eltern tun es meistens in "guter Absicht", wenn sie zum Beispiel dem Kind helfen, obwohl dieses gar keine Hilfe verlangt hat, ihm Essen anbieten, obwohl es gar nicht danach verlangt hat oder es liebkosen, obwohl es gar nicht bereit dazu ist. Solche Grenzüberschreitungen mögen zwar eher subtiler Art sein, doch können sie trotzdem Anlass genug sein, dass sich das Kind zu heftiger Gegenwehr genötigt sieht. Für Sie als Eltern ist es äusserst wichtig, dass Sie diese Grenzen des Kindes respektieren, ansonsten Sie Ihrerseits nicht erwarten können, dass das Kind Ihnen jemals Respekt entgegenbringt! In aller Regel brauchen Sie bloss das Kind wieder in Ruhe zu lassen und es wird mit seinem Protest aufhören. Immerhin sollten Sie sich aber noch überlegen, ob es nicht angebracht wäre, sich beim Kind zu entschuldigen, indem Sie ihm zum Bespiel erklären, weshalb Sie eingegriffen haben - und sich vornehmen, beim nächsten Mal das Kind vorher zu fragen, ob es wirklich etwas von Ihnen braucht (vor allem anderen braucht es Ihr Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten)!
  • Widerstand gegenüber dem Willen des Kindes: Wenn der Wille des Kindes auf Widerstand stösst, weil Sie zum Beispiel konsequent "Nein!" gesagt haben, als es Ihr Taschenmesser behändigen wollte, wird es das anfangs noch nicht einfach so akzeptieren können und zuerst einmal Widerstand leisten, also trotzen. Denn das Kind, das gerade seinen frisch erwachten Willen entdeckt hat, setzt sich mit seiner ganzen Kraft für sein Anliegen ein. In dieser Phase der Willensbildung verteidigt es sich und seine Ziele sozusagen ohne Rücksicht auf Verlust. Das ist zunächst ein Zeichen seiner gesunden Entwicklung! In einem zweiten Schritt geht es aber darum, diesen Willen so zu kultivieren, dass das Kind auch die Anliegen seiner Umwelt miteinbeziehen kann und sich trotzdem noch verwirklichen kann. Dabei ist es auf eine angemessene Reaktion seiner Eltern auf seine "Tobsuchtsanfälle" angewiesen.

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Angemessene Reaktion

Als erstes müssen Sie bereit sein, sich überhaupt auf die Auseinandersetzung einzulassen. Das heisst,

  • sich über die Grenze, die Sie dem Kind setzen wollen, sicher sein,
  • dem Kind laut und deutlich "Nein!" sagen, wenn es diese festgelegte Grenze überschreitet und
  • schliesslich konsequent dabei bleiben.

Sind Sie hingegen nicht sicher, ob Sie doch lieber "tolerant" sein wollen oder fürchten Sie sich vor den Folgen Ihrer "Härte", lassen Sie es besser ganz sein. Denn wenn Sie bloss "Jein" sagen, verlieren Sie gleich doppelt: Weder haben Sie damit dem Kind eine nötige Grenze gesetzt, noch haben Sie sein Vertrauen bestärkt (denn es weiss nun nicht, was wirklich gilt und was nicht). Sind Sie sich hingegen sicher, dann gilt es bei einem "Tobsuchtsanfall" standhaft zu bleiben:

  1. Ruhig bleiben,
  2. Beim Kind bleiben und
  3. Warten, bis sich das Kind ausgetobt hat
  4. und schliesslich bereit zur Versöhnung zu sein.

Wenn das Kind zum Beispiel mitten im Laden eine Schokolade aus dem Gestell herausreisst und sie nicht mehr hergeben will, müssen Sie ihm ein klares "Nein! - Leg die Schokolade zurück!" entgegen halten, und zwar lieber zu laut als zu leise. Wenn das Kind an seinem frisch erwachten Willen festhält (was nur gut ist!), wird es jetzt mit grösster Wahrscheinlichkeit zu toben beginnen (von wütigem Schreien bis auf den Boden legen müssen Sie mit allem rechnen). Jetzt heisst es für Sie zuerst einmal durchatmen und ruhig bleiben: Schweigen Sie und warten Sie beim Kind so lange, bis es sich beruhigt hat. Das kann durchaus einige Minuten dauern (während denen Sie womöglich auch noch einige vorwurfsvolle Blicke und Bemerkungen der Umwelt aushalten müssen). Verzichten Sie zudem auf körperlichen Kontakt: Die meisten Kinder werden sich in solchen Situationen vehement dagegen streben.

Einzig Ihre aufmerksame Anwesenheit ist wichtig. Konzentrieren Sie sich auf das Kind und erinnern Sie sich, dass Sie Ihr Kind lieben und in diesem Moment etwas vom wichtigsten überhaupt für es tun: Sie haben ihm eine Grenze gesetzt und stehen "trotzdem" zu ihm. Oder anders ausgedrückt: Sie vertrauen Ihrem Kind und lieben es auch in schwierigen Situationen!

Irgendwann wird das Kind aufhören zu toben und Sie werden in aller Regel staunen, dass ebenso plötzlich "alles wieder gut ist". Dem Kind ging es offenbar weniger um die Schokolade als solche, sondern viel mehr darum, seinen Willen auszuprobieren und zu sehen, wie weit es damit kommt. Und das ist auch gut so. Denn der Wille ist die entscheidende Kraft für den Menschen, um überhaupt etwas erreichen zu können. Bloss muss dieser Wille zuerst gewissermassen kultiviert werden, sodass das Kind auch die Bedürfnisse seiner Umwelt respektieren kann. Wenn sich die Wogen wieder geglättet haben, können Sie mit dem Kind immer noch besprechen, warum Sie ihm die Schokolade nicht geben wollten, meistens ist das aber gar nicht mehr nötig, weil es offensichtlich ausschliesslich um das Ausloten der Grenzen ging.

Wenn Sie das durchgestanden haben, werden Sie mit Ihrem Kind wieder versöhnt sein. Diese Versöhnung ist vergleichbar mit dem Trost, den Sie dem Kind geben, wenn es sich weh getan hat: Es ist völlig unwichtig, was der Grund des Schmerzes war und der Schmerz ist auch gleich wieder vergessen, wenn das Kind bloss wirklich getröstet wurde. So braucht es auch für den Tobsuchtsanfall weder irgendeine Erklärung noch darf die Versöhnung an irgendwelche Bedingungen geknüpft werden. Versöhnung ist ein Grundbedürfnis des Kindes, das ihm zeigt, dass es von seinen Eltern geliebt wird, auch wenn es etwas anderes will als diese!

Auch wenn Ihnen klar ist, wie Sie bei einem "Tobsuchtsanfall" angemessen reagieren können, dürfte es anfangs trotzdem nicht ganz einfach sein. Das macht gar nichts, denn Kinder sind ausgesprochen gute "Lehrmeister": sie werden Ihnen immer wieder Gelegenheit zum "üben" geben!

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Kontraproduktive Reaktionen

Auf Tobsuchtsanfälle gibt es eine ganze Reihe von ausgesprochen kontraproduktiven Reaktionsmöglichkeiten:

Zurückschreien

Wenn Sie das tobende Kind einfach anschreien, wird es erst recht noch mehr toben, das heisst es entsteht ein eigentlicher Teufelskreis. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, was Sie ihm sagen: das Kind wird es nicht hören, geschweige denn verstehen! Das Kind braucht in diesem Moment keine überreagierenden Eltern, sondern deren Gelassenheit.

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Verspotten oder Verachten

Wenn Sie die Situation einfach lächerlich finden, nehmen Sie das Kind nicht ernst. Spott und Verachtung ist aber das Gegenteil von dem, was angezeigt ist: Ihr Kind braucht in dieser Situation Ihre Aufmerksamkeit, denn es entwickelt gerade eine der wichtigsten Fähigkeiten für sein Leben, nämlich seinen Willen.

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Vorwürfe

Vorwürfe nach dem Muster "Spinnst Du eigentlich, mitten im Laden ein solches Theater zu veranstalten?" bringen schon deshalb nichts, weil sie das Kind gar nicht hören kann (immerhin wird es dadurch vor Ihrer Geringschätzung verschont). Vor allem aber reagiert das Kind ausgesprochen gesund: es wird ganz einfach wütend, weil es seinen (frisch entdeckten!) Willen nicht ausleben kann. Gesundes Verhalten dürfen Sie aber dem Kind nicht vorwerfen. Vielmehr sollten Sie wissen, um was es wirklich geht und zu Ihrem Kind stehen. Also bei ihm bleiben und warten, bis es sich ausgetobt hat.

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Festhalten

Ein tobendes Kind kann nicht etwa dadurch beruhigt werden, dass Sie es festhalten. Ganz im Gegenteil: es will nicht angefasst werden und reagiert nur noch mit mehr Wut. Natürlich können Sie es gegen seinen Willen festhalten, jedenfalls solange Sie ihm körperlich noch überlegen sind. Allerdings ist das dann doch schon eine recht massive Grenzüberschreitung Ihrerseits. Und das Kind wird womöglich den fatalen Entschluss fassen, Ihnen diese Verletzung irgendwann zurückzubezahlen. Was dabei noch schlimmer ist: Sie haben versucht seinen Willen zu brechen. Wenn Sie das genügend oft wiederholen, zerstören Sie ihm etwas vom Wetvollsten überhaupt für sein Leben!

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Wegsperren

Wütend schreiende Kinder sind schwer auszuhalten. Trotzdem sollten Sie nicht etwa in Versuchung kommen, ein tobendes Kind einfach in sein Zimmer zu sperren. Denn in dieser Situation hat das Kind seine Eltern dringend nötig! Es braucht Ihre Anwesenheit, damit es erfährt, dass es auch in dieser Situation von Ihnen geliebt wird. Wenn Sie es wegsperren, ist das nichts anderes als ein krasser Liebesentzug. Sie haben ihm damit nur vermeintlich eine Grenze gesetzt, denn gleichzeitig haben Sie es verlassen (was für ein Kind immer noch die schlimmste Strafe überhaupt ist!). Eine echte Grenze ist aber nicht nur trennend, sondern gleichzeitig verbindend. Das heisst Sie müssen beim Kind ausharren, bis es sich ausgetobt hat.

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Ignorieren

Nicht viel anders verhält es sich, wenn Sie versuchen, das Toben einfach zu ignorieren. Denn es ist etwas, und zwar etwas ganz Bedeutendes: Ihr Kind ist gerade daran, seinen frisch entdeckten Willen auszuprobieren! Und das ist mindestens so bedeutend und wertvoll, wie wenn das Kind gerade laufen gelernt hat! Beachtung sollte deshalb selbstverständlich sein.

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Verlassen

Noch problematischer ist natürlich, wenn Sie sich vom Kind einfach entfernen. Das gibt dem Kind das Gefühl, verlassen zu werden, also so ziemlich das Schlimmste, was ihm geschehen kann! Sie haben damit war auch eine Art Grenze gesetzt, doch eine ohne Kontakt. Und schliesslich setzen Sie das Kind dabei noch Gefahren aus, da es sich nun selbst helfen muss und damit in diesem Alter womöglich überfordert ist. So wird schliesslich auch noch sein Vertrauen in Sie beeinträchtigt!

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Nachgeben

Die auf den ersten Blick einfachste Variante ist natürlich, wenn Sie dem Kind die Schokolade einfach lassen (obwohl Sie eigentlich der Meinung sind, dass es diese nicht behalten soll). Das mag zwar bequem sein, doch ist es ausgesprochen heikel, denn Sie verschieben das Problem nur auf die nächste Situation (das Kind wird sich dann nicht mehr mit einer Tafel Schokolade begnügen, sondern sich immer mehr nehmen, um endlich eine Grenze zu erhalten). Sie müssen sich deshalb unbedingt frühzeitig darüber Gedanken machen, was Sie selbst wollen und sollten dann möglichst die "erstbeste Chance" nutzen und lernen, dem Kind eine Grenze zu setzen. Denn Sie werden nicht darum herumkommen und können diese Aufgabe auch nicht etwa delegieren (indem Sie zum Beispiel denken, dass dem Kind dann in der Schule schon gesagt würde, was es zu tun oder lassen habe). Die Verantwortung dafür liegt ausschliesslich bei Ihnen, ansonsten Sie keine echte Beziehung zu Ihrem Kind aufbauen können!

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Machtspiele

Häufig nehmen Eltern tobende Kinder als böse wahr und kommen in Versuchung, sich an ihnen gewissermassen rächen zu wollen (ob bewusst oder unbewusst). Sie denken, dass das Kind ihnen aus irgendeinem Grund übel will. Zum Beispiel kommen sie auf die Idee, dem Kind zwar die Schokolade zu lassen, aber ihm zu drohen, dass es dafür dann nichts zum Nachtessen gäbe. Strafen machen in der Erziehung aber an sich schon keinen Sinn. Verschärfend kommt hier aber hier noch dazu, dass die Strafe dem Kind für eine an sich positive Entwicklung (nämlich die Willensbildung) angedroht wird. Und wenn es dann noch bloss bei der Drohung bleibt, weil Sie am Abend schon wieder zurückgekrebst sind, haben Sie das Kind gewissermassen auch noch enttäuscht und damit sein Vertrauen komplett verloren. Dabei handelt es sich bloss um ein Missverständnis, denn das Kind in diesem Alter ist erstens noch gar nicht zu böser Absicht fähig und ist zweitens bloss daran, seinen Willen zu entwickeln. Dieser Wille ist allerdings noch derart ungestüm, dass das Kind mit ihm anfangs schlicht überwältigt ist. Es braucht deshalb Grenzen, die es von seinen Eltern erhalten muss. Nur so kann es seinen Willen nach und nach kultivieren und sinnvoll einsetzen. Machtspiele hingegen sind jeder Beziehung abträglich, ganz besonders aber für die so wichtige Beziehung zwischen den Eltern und dem Kind.

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Flucht in die Meta-Ebene

Eine weitere Versuchung ist schliesslich, dem Kind sein Verhalten psychologisch erklären zu wollen, zum Beispiel "Jetzt machst Du mir wieder eine Szene!" Abgesehen davon, dass solche "Analysen" meistens unsinnig und falsch sind, sind sie für das Kind schlicht eine Überforderung. Denn Kinder sind in der Regel frühestens ab der Pubertät überhaupt fähig, über ihr eigenes Verhalten zu reflektieren. Beim Kind kommen solche Aussagen wie Urteile an, gegen die es sich nicht wehren kann, weil es sie gar nicht versteht. Zudem sind in solchen Situationen überhaupt keine Erklärungen oder gar Vorwürfe angebracht, da es ausschliesslich in der Verantwortung der Eltern liegt, angemessen zu reagieren.

Alle diese Reaktionen führen dazu, dass das Kind nie wirklich Grenzen erfährt und deshalb auch nicht lernen kann, seinen Willen sinnvoll einzusetzen, das heisst zu seinem eigenen Nutzen und die Grenzen seiner Umwelt respektierend. Die Gefahr dabei ist, dass es zum Störenfried (oder umgekehrt zum Duckmäuser) wird, jedenfalls wird es verhaltensauffällig. Handelt es sich dann noch um ein Kind, das schon von seinem Temperament her eigentlich mehr Grenzen und Strukturen als andere brauchen würde, ist die Gefahr gross, dass ihm zum Beispiel das "Etikett ADHS" angehängt wird, obwohl eigentlich Erziehungsfehler der Eltern Ursache für sein Verhalten sind.

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Weiterführende Themen

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Übergeordnetes Thema

Willensbildung (zweite Phase der Erziehung)

Fragen und Feedback

Das "Zweimalzwei der Erziehung" ist zum Teil noch im Aufbau. Allfällige Fragen oder Feedback sind willkommen: Email

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