Willen brechen

Aus 2 x 2 der Erziehung
Zur Navigation springen Zur Suche springen


Ein freier Wille ist nebst einem gesunden Selbstvertrauen die wichtigste Kraft des Menschen überhaupt. Damit aus dem ursprünglich rohen und kompromisslosen Willen des Kindes aber ein möglichst freier Wille wird, muss dieser gewissermassen kultiviert werden. Dazu braucht das Kind Herausforderungen und Grenzen. Dass der Wille des Kindes gebrochen werden müsste, ist nicht nur eines der grössten Missverständnisse in der Erziehung, sondern zugleich eines der fatalsten. Ein gebrochener Wille kann gefährliche Folgen für die Persönlichkeit des Menschen haben.

Vertrauensbildung (bis etwa 2 Jahre)

Während der Phase der Vertrauensbildung hat das Kind erst einen Lebenswillen, das heisst, all seine Anstrengungen sind einzig auf sein Überleben ausgerichtet. Es hat also noch keine Absichten, die über die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse hinausgehen würden. In dieser Zeit dürfen, ja sollen Sie denn auch grundsätzlich immer und zu allem "Ja" sagen (jedenfalls, solange als nicht wirkliche Gefahren drohen). Lassen Sie das Kind nicht einfach schreien, in der Hoffnung, dass es schon irgendwann "zur Vernunft kommen" und aufgaben würde. Denn sein Lebenswille kann so lange nicht gebrochen werden, wie es lebt! Das einzige, was es irgendwann aufgeben wird, ist sein Vertrauen in seine Eltern, also die Grundlage jeder Beziehung überhaupt. Und da die Eltern in dieser Zeit sozusagen das ganze Universum des Kindes sind, wird auch sein Vertrauen in das Leben überhaupt beeinträchtigt, sodass es schliesslich umso grössere Mühe haben wird, Selbstvertrauen aufzubauen. Seien Sie sich deshalb bewusst, dass einem schreienden Kleinkind immer etwas Elementares fehlt. Und auch wenn Sie nicht immer ein Heilmittel finden: Sofortiger, bedingungsloser Trost hilft immer!

^ nach oben

Willensbildung (etwa 2 bis 4 Jahre)

Wenn das Kind beginnt seinen Willen zu entwickeln, in der Regel etwa im dritten Lebensjahr, braucht das Kind Herausforderungen und Grenzen. Denn sein Wille wird unweigerlich und öfters mit Ihren Absichten zusammenstossen. Nur wenn das Kind Ihren Widerstand spürt, kann es lernen, mit dieser so wertvollen Kraft sinnvoll und respektvoll umzugehen. Die Zeit der Willensbildung kann für Eltern eine grosse Herausforderung sein, ist aber für die Entwicklung des Kindes von enormer Bedeutung. Sie sollten deshalb gut darauf vorbereitet sein, denn Konfrontationen sind unausweichlich und Sie müssen insbesondere bereit sein zu lernen, angemessen auf allfälliges Toben zu reagieren. Denn wenn Eltern einfach mit Gewalt versuchen, den Willen zu des Kindes zu brechen, können die Folgen für das Leben des Kindes äusserst fatal sein!

Angemessene Reaktion auf den Willen des Kindes

Der frisch erwachte Wille des Kindes ist eine derart starke Kraft, dass sie im Kind geradezu Allmachtsphantasien auslösen kann. Und wenn das Kind etwas will, will es alles oder nichts, es kennt anfangs weder Kompromisse noch Relativierungen (beziehungsweise wäre damit schlicht überfordert). Es macht denn auch keinen Sinn, von ihm Dinge wie Rücksicht oder Respekt zu verlangen: Weder kann es solche abstrakten Begriffe verstehen, noch könnte es danach handeln. Es muss vielmehr Ihren Widerstand spüren. Ihr Widerstand kann grundsätzlich zwei Formen haben:

  • Herausforderungen: Kinder in diesem Alter lieben und brauchen Herausforderungen. Sie wollen ihre körperlichen und geistigen Kräfte ausprobieren und erfahren, was sie alles damit erreichen können. Das sollten Sie unbedingt nutzen, indem Sie mit ihnen zum Beispiel in die freie Natur gehen, wo sie sich austoben können, Bäume hochklettern können und mutige Sprünge über Bäche üben können. Nehmen Sie ruhig die eine oder andere Blessur in Kauf, so kann das Kind selbst erfahren, wo seine Grenzen liegen. Wohl sollen Sie es vor wirklichen Gefahren warnen, doch muss es unbedingt auch selbst erleben können, was es sich zumuten kann. Bedenken Sie zudem, dass die meisten Gefahren in der Natur blosse Bagatellgefahren sind, also Missgeschicke und Fehltritte, die zwar schmerzhaft sein können, aber kaum je zu Verletzungen führen können, jedenfalls zu keinen ernsthaften. Ein schöner Nebeneffekt solcher Abenteuer ist schliesslich, dass Kinder davon müde werden und abends leicht und zufrieden einschlafen können.
  • Grenzen: Wenn das Kind zu weit geht, also Ihre Grenzen überschreitet, müssen Sie lernen, laut und deutlich "Nein!" zu sagen und konsequent dabei zu bleiben. Schauen Sie dabei dem Kind in die Augen und bleiben Sie bestimmt, aber ruhig. Gut möglich, dass das Kind nicht einfach nachgibt, sondern zu toben beginnt. Dann müssen Sie lernen, angemessen auf das Toben zu reagieren, das heisst ruhig beim Kind bleiben und warten, bis sich das Kind ausgetobt hat und schliesslich bereit zur Versöhnung zu sein. Ihr Widerstand muss dabei immer passiv sein, Sie dürfen das Kind also nicht festhalten, wegsperren oder gar schlagen. Sie können sich aber ihm in den Weg stellen oder, wenn es Sie zu schlagen beginnt, ihm Ihren Arm oder Ihr Bein entgegenhalten (einige Kinder müssen den Widerstand tatsächlich körperlich erfahren). Es bringt auch nichts, einem tobenden Kind irgendetwas erklären und es so "zur Vernunft bringen" zu wollen, das wäre völlig kontraproduktiv. Denn es geht ja gerade nicht um irgendeine rationale Diskussion, sondern einzig darum, dass das Kind seine neue Kraft, also seinen Willen, ausprobieren will. Das ist vergleichbar mit dem Prozess, wenn Sie zum Beispiel das Pfeilbogenschiessen lernen wollen: Anfangs werden Sie die Saite des Bogens möglichst stark spannen und den Pfeil mit voller Wucht, aber noch nicht wirklich kontrolliert, ins Ziel schiessen wollen (und meistens daneben schiessen). Erst mit viel Übung und nach einigen Fehlschüssen werden Sie lernen, die Saite richtig dosiert zu spannen und den Pfeil in höchster Konzentration im richtigen Moment loszulassen.

Als Eltern müssen Sie schliesslich nicht nur lernen, dem Kind konsequent "Nein!" zu sagen, sondern umgekehrt auch das "Nein!" des Kindes zu respektieren. Wenn es zum Beispiel etwas nicht essen willen, dürfen Sie es nicht dazu zwingen, das wäre höchst kontraproduktiv. Sind Sie hingegen der Meinung, dass es sich bloss um wählerisches Verhalten geht, brauchen Sie ihm keine Alternative anzubieten, sondern es frei entscheiden lassen, ob es essen will oder eben nicht. Verweigert es das Essen, können Sie ihm sagen, dass es in diesem Fall eben bis zur nächsten Mahlzeit warten muss (es wird deswegen nicht verhungern!). Auf diese Weise leisten Sie ihm den nötigen Widerstand, ohne irgendwelche Gewalt anzuwenden. Sie müssen bloss konsequent bei Ihrer Haltung bleiben! Der Wille des Kindes darf also nicht gebrochen werden, sondern muss gewissermassen kultiviert werden. Dazu dienen die Eltern als eine Art Sparringspartner, indem Sie den nötigen Widerstand leisten. Selbstverständlich dürfen und sollen Sie diesen Widerstand auch variieren und gelegentlich nachgeben. Gehen Sie aber keine Kompromisse aus blosser Bequemlichkeit ein, weil Sie zum Beispiel die Konfrontation oder das "Nein!" scheuen. Ihr Kind braucht die Auseinandersetzung mit Ihnen, um sich gesund entwickeln zu können!

^ nach oben

Kontraproduktive Reaktion

Vom meist plötzlich erwachenden, ungestümen Willen des Kindes werden manche Eltern überrascht und reagieren hilflos oder gar mit Gewalt:

  • Festhalten: Eltern kommen gerne in Versuchung ihre ungestümen Kinder festzuhalten, was deren Durchsetzungswillen häufig erst recht provoziert. Das sollten Sie höchstens im Notfall tun, das heisst, wenn wirkliche Gefahren drohen. Wenn Ihr mit voller Überzeugung ausgesprochenes "Nein!" (oder auch "Stop!") nicht genügend wirkt, können Sie Widerstand leisten, indem Sie sich dem Kind in den Weg stellen, sodass es anrennt.
  • Wegsperren: Ein Kind wegzusperren heisst, dass Sie ihm die Beziehung verweigern, was schon fast die Höchststrafe bedeutet. Ein weggesperrtes Kind wird weder "zur Vernunft kommen", noch wird es seine Absichten einfach aufgeben. Es wird sich in erster Linie verlassen fühlen und sich zum Beispiel Gedanken machen, wie es sich am besten rächen könnte (sobald es genügend gross ist) oder wie es beim nächsten Mal seine Eltern besser überlisten könnte. Einem Kind, das tobt, müssen Sie unbedingt beistehen, indem Sie ruhig (!) bei ihm bleiben und warten, bis es sich ausgetobt hat. Das Kind muss die Erfahrung machen können, dass es zwar mit seinem Willen anstossen kann, aber "trotzdem" geliebt wird.
  • Schlagen: Dass Schlagen keine elterliche Antwort auf den Willen des Kindes sein kann und natürlich auch nicht sein darf, dürfte selbstverständlich sein. Elterliche Gewalt stellt schon aufgrund der ungleichen Kräfteverhältnisse immer ein Machtmissbrauch dar und wird sich früher oder später rächen, sei es, wenn das Kind selbst genügend kräftig ist, um zurückschlagen zu können, sei es, dass seine Furcht vor den eigenen Eltern derart gross wird, dass sein Vertrauen zu sehr beeinträchtigt wird, um eine tragfähige Beziehung zu ermöglichen.
  • Ignorieren: Eltern, die zwar eine aktive Gewaltanwendung scheuen, aber nicht wissen, was sie dem kindlichen Willen entgegenstellen sollen, kommen gerne in Versuchung, einfach so zu tun, als wäre nichts, in der Hoffnung, dass sich die Sache mit der Zeit schon irgendwie von alleine löst. Dadurch entstehen gleich zwei Probleme: Erstens wird das Kind nicht beachtet, es fehlt ihm also ein fundamentales Stück der elterlichen Zuwendung und Sorge. Zweitens kann das Kind seinen Willen ohne Ihren Widerstand unmöglich zu einem freien Willen entwickeln. Es wird deshalb immer weiter nach Grenzen suchen, sodass auch die geduldigsten und tolerantesten Eltern irgendwann die Geduld verlieren und schliesslich die Gefahr droht, dass sie schliesslich überreagieren. Im übrigen ist das Ignorieren eines Kindes genauso eine Form von Gewalt wie das Schlagen!
  • Ironie: Nicht viel besser verhält es sich mit ironischen Bemerkungen ("Mach nur weiter so, Du wirst Dir die Hörner schon noch abschlagen!"). Denn erstens kann ein Kind in diesem Alter noch keine Ironie verstehen (nicht zu verwechseln mit Humor!) und zweitens müssen Sie Ihr Kind in seiner Entwicklung unbedingt ernst nehmen!

Solche Reaktionen sind immer kontraproduktiv, verschärfen also die Problematik noch, statt sie zu lösen, wenn auch meistens nicht aus schlechter Absicht, sondern schlicht in Unwissenheit der kindlichen Entwicklung. Sie tun deshalb gut daran, sich wenigstens gedanklich auf das Thema der Willensbildung einzustellen, sodass Sie einigermassen vorbereitet sind. Vermutlich werden Sie beim ersten Toben des Kindes trotzdem "auf dem linken Bein" erwischt, doch können Sie sicher sein, dass Sie noch genügend Gelegenheiten haben werden, um angemessen reagieren zu lernen!

^ nach oben

Mögliche Folgen eines gebrochenen Willens

Die Folgen eines gebrochenen Willens auf das Verhalten des Kindes sind je nach dessen Persönlichkeit ganz unterschiedlich, auf jeden Fall aber gravierend. Es gibt Kinder, die eher resignativ reagieren und andere, die eher übermässig impulsiv, provokativ oder gar aggressiv werden. Seien Sie sich bewusst, dass der Wille des Kindes zwar gebrochen werden kann, deswegen aber nicht einfach aufhört zu existieren. Ein gebrochener Wille ist wie eine gebrochene Klinge eines Messers: Die einzelnen Teile sind kaum mehr sinnvoll zu gebrauchen, können aber sehr gefährlich werden, weil sie nicht mehr richtig zu handhaben sind!

^ nach oben

Weiterführende Themen

^ nach oben

Übergeordnetes Thema

Willensbildung (zweite Phase der Erziehung)

Fragen und Feedback

Das "Zweimalzwei der Erziehung" ist zum Teil noch im Aufbau. Allfällige Fragen oder Feedback sind willkommen: Email

^ nach oben