Entscheiden: Unterschied zwischen den Versionen

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<metadesc>Entscheiden ist eine der wesentlichsten Funktionen des Menschen überhaupt und Ausdruck des (freien) Willens. Erziehung sollte darauf abzielen, dass das Kind mehr und mehr möglichst frei und bewusst entscheiden kann.</metadesc>
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Entscheiden ist eine der wesentlichsten Funktionen des Menschen überhaupt und Ausdruck des [[Wille|(freien) Willens]]. Das Ziel des Menschen sollte idealerweise sein, dass er möglichst [[Freiheit|frei]] und [[bewusst]] entscheiden kann. Dieses hehre Ziel geht natürlich weit über die Erziehung hinaus und stellt sich auch längst nicht jedem Mensch. Immerhin können Sie als Eltern [[Phasen der Erziehung|in den ersten Jahren]] des Kindes mehr oder weniger gute Voraussetzungen dafür schaffen.


Entscheiden ist wohl eine der wichtigsten Fähigkeiten des Menschen und freies Entscheiden ein fundamentales Menschenrecht. Das bewusste Wählen zwischen mehreren Möglichkeiten setzt aber [[Wille]] voraus. Denn um entscheiden zu könne, muss man zuerst wissen, was man will.
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Dieser Wille (der mehr ist als der blosse [[Lebenswille]]) entwickelt sich im Kind erst etwa im dritten Lebensjahr (häufig auch als "Trotzphase" bezeichnet). Zuvor vertraut das Kind grundsätzlich und vollumfänglich seinen Eltern und hat denn auch gar keinen Grund sich entscheiden zu müssen: Alles, was von seinen Eltern kommt, nimmt es als gut auf (jedenfalls solange die Eltern darauf achten, auch wirklich die [[Grundbedürfnisse des Kindes]] zu befriedigen). Plötzlich aber ist es dahin mit dem bedingungslosen Zuspruch und das Kind will selbst entscheiden. Die meisten Eltern erschrecken darob zuerst einmal.
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Ob das Kind seine Eltern auswählt oder nicht, ist mehr eine [[philosophisch|philosophische]], [[spirituell|spirituelle]] oder gar [[religiös|religiöse]] Frage, die für die Erziehung kaum relevant ist. Auf jeden Fall aber beginnt das Leben des Kindes mit einem gewichtigen Entscheid, nämlich auf die Welt zu kommen. Es ist das Kind, das den Zeitpunkt seiner [[Geburt]] bestimmt (inwiefern sich künstliche Eingriffe wie [[Kaiserschnitt]] auf die [[Psyche]] des Kindes auswirken, ist eine andere Frage). Schon allein diese Tatsache sollte Ihnen als Leitlinie dafür dienen, dass Kinder grundsätzlich alles selbst entscheiden können, ganz unabhängig davon, wie gross die Tragweite des Entscheids ist (selbstverständlich mit dem Vorbehalt, dass Sie bei [[Gefahren|wirklichen Gefahren]] eingreifen müssen).


Das [[Nein des Kindes|"Nein des Kindes"]] ist aber der erste - wortwörtlich - entscheidende Schritt zum freien Willen! Das "Nein" des Kindes von den Eltern ist genau so zu akzeptieren wie sich Eltern ihrerseits mit ihrem [[Nein der Eltern|"Nein"]] zu behaupten lernen müssen. Wenn Sie also zum Beispiel dem Kind wegen des kalten Wetters eine Mütze anziehen wollen und das Kind "Nein" sagt, müssen Sie das [[Respekt der Eltern|respektieren]], ganz gleich wie vernünftig oder unvernünftig das in Ihren Augen erscheinen mag. Wichtig ist dabei, dass Sie dem Kind die [[Konsequenzen]] daraus [[erfahren]] lassen! Lassen Sie also das Kind die Kälte spüren, bis es von selbst nach der Mütze verlangt (oder bemerkt, dass es kalte Ohren hat, worauf Sie ihm den Vorschlag wiederholen können). Und vielleicht ist es auch einfach so, dass das Kind gar nicht so kälteempfindlich ist, wie Sie sich vorgestellt haben! Sie haben mit diesem Verhalten nicht bloss den Willen des Kindes respektiert, sondern auch noch viel für das gegenseitige Vertrauen getan: Das Kind hat erfahren, dass Sie ihm den [[Selbständigkeit|selbständigen]] Entscheid zumuten und dass Sie auch dann noch [[Güte|gütig]] genug sind, wenn das Kind hinterher feststellen muss, dass es mit seinem Entscheid "falsch" lag (und dankbar ist, dass Sie ihm die Mütze mitgenommen haben). Denn wichtig beim entscheiden ist nicht in erster Linie, ob richtig oder falsch, sondern einzig dass entschieden wird! Achten Sie also vor allem in während der Willensbildung, also etwa im dritten Lebensjahr, auf diese Zusammenhänge, denn der freie Wille ist eine absolut grundlegende Voraussetzung, um frei entscheiden zu können - und somit eines der höchsten Güter des Menschen!
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Während der Phase der [[Vertrauensbildung]] ist der Wille des Kindes noch auf seinen [[Lebenswille|Lebenswillen]] beschränkt: Alles, was das Kind entscheidet, entscheidet es im Hinblick auf sein Überleben. Oder anders ausgedrückt: es geht ausschliesslich um seine [[Grundbedürfnisse des Kindes|Grundbedürfnisse]]. Sie dürfen deshalb alles, was das Kind selbst entscheiden mag, ihm überlassen! Ganz gleich, ob es gestillt oder gehalten werden will, schlafen oder spielen will: sagen Sie [[Ja der Eltern|"Ja"]] zu ihm und [[Vertrauen der Eltern|vertrauen]] Sie ihm, dass es das tut oder lässt, was für das Kind stimmt. In diesem Alter dürfen, ja sollen Sie das Kind [[verwöhnen]].
 
Sie müssen bloss vorsichtig sein, wenn es um die Kehrseite des allgemeinen Wohlstands geht, also um [[Reizüberflutung]], [[Überfluss]] oder gar um [[Gefahren|wirkliche Gefahren]] geht. Das gilt zum Beispiel für sogenannte [[Auswahlsendung|"Auswahlsendungen"]]: Wenn Sie einem Kleinkind einen Ball schenken wollen, ist es vollkommen unnötig, ihm zehn verschiedene Bälle zur Auswahl hinzuhalten, es wäre damit schlicht [[Überforderung des Kindes|überfordert]]. Gehen Sie alleine in den Laden und suchen Sie selbst einen aus (und vermeiden Sie zudem, dass der Ball auch noch bunt bemalt ist: Der Ball für sich allein wird dem Kind völlig genügen, alles weitere wäre [[kontraproduktiv]]!). "Auswahlsendungen" können in diesem Alter [[Begehrlichkeiten]] [[Provozieren der Eltern|provozieren]], die nichts mehr mit den Grundbedürfnissen zu tun haben. Wenn das Kind aber eh schon dabei ist und von sich aus einen bestimmten Ball aussucht, dürfen Sie es natürlich selbst auswählen lassen, wenn es mag.
 
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Wenn das Kind beginnt seinen [[Willensbildung|Willen zu entwickeln]], in der Regel etwa im dritten Lebensjahr, nimmt auch seine Entscheidungskraft eine ganz neue Dimension an: es will sich nun mit seiner ganzen, ihm zur Verfügung stehenden Kraft durchsetzen und etwas erreichen, das weit über die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse geht. Das ist zunächst ein Zeichen der gesunden Entwicklung! Es ist aber auch offensichtlich, dass seine Entscheide mit denen Anderer, insbesondere seiner Eltern, kollidieren kann. Als Eltern müssen Sie sich in diesem Moment erstens klar sein, was Sie selbst überhaupt wollen und zweitens ob Sie den Entscheid des Kindes hinnehmen wollen oder nicht. Wenn das Kind zum Beispiel auf dem Spaziergang unbedingt noch weitere Steine aufheben und betrachten will, während Sie schon weitergehen wollen, müssen Sie sich zuerst fragen, ob Sie sich in Geduld üben wollen oder ob Sie dabei zu frieren beginnen und deshalb dringend weitergehen wollen. Wollen Sie weitergehen und können das Kind trotz gutem [[Zureden]] nicht zum mitkommen bewegen, können Sie die Situation [[eskalieren]] lassen, wobei es verschiedene Möglichkeiten gibt:
* Sie gehen weiter und das Kind kümmert sich nicht darum: Nun müssen Sie entscheiden, inwiefern Sie das allenfalls damit verbundene [[Risiko]] verantworten können: Je nach Situation kann das natürlich sehr schnell gefährlich werden, sodass Sie trotzdem etwas weiter ab warten müssen.
* Sie gehen weiter und das Kind beginnt zu [[toben]] (entweder aus Wut, weil es sich nicht durchsetzen kann oder sich von Ihnen vernachlässigt fühlt oder schlicht, weil es sich allein ängstigt). In diesem Falls müssen Sie warten, ansonsten Sie das Kind verlassen würden (etwas vom Schlimmsten, das ihm geschehen kann!). Warten Sie beim Kind, bis es ich beruhigt hat und bereit ist, sich mit Ihnen zu [[Versöhnung zwischen Eltern und Kind|versöhnen]]. Das braucht zwar auch Zeit, lohnt sich der auf jeden Fall (im übrigen wird es die Steine nach überstandenem [[Toben|Tobsuchtsanfall]] mit grösster Wahrscheinlichkeit bereits wieder vergessen haben, vielleicht aber auch in aller Ruhe über den Konflikt sprechen können)!
* Keinesfalls dürfen Sie das Kind einfach [[packen]] und [[wegtragen]], das wäre ein [[Macht|Machtmissbrauch]], der sich schon bald, spätestens aber wenn das Kind etwas kräftiger ist, als äusserst [[kontraproduktiv]] herausstellen würde! Denn auch das [[Nein des Kindes|"Nein!" des Kindes]] ist zu respektieren, ansonsten es ziemlich illusorisch wird, wenn Sie es umgekehrt von ihm verlangen.
Die Phase der Willensbildung wird selten ohne Konflikte zwischen Eltern und Kind über die Bühne gehen. Das braucht sie aber auch gar nicht, denn die Auseinandersetzung ist dazu da, dass beide [[lernen]] können: Die Eltern müssen lernen, dem Kind [[konsequent]] [[Nein der Eltern|"Nein!"]] zu sagen und das Kind erfährt, dass es zwar selbst entscheiden darf, seine Entscheide aber auch auf Widerstand treffen können. Dieser [[Widerstand der Eltern|Widerstand]] kann zwar leidvoll sein, er schafft aber auch [[Kontakt]] und somit [[Beziehungen|Beziehung]]. Und die [[Versöhnung zwischen Eltern und Kind|Versöhnung]] zeigt dem Kind, dass es "trotzdem" geliebt wird.
 
Auseinandersetzungen können durchaus auch [[kooperativ]] und [[konstruktiv]] erfolgen, indem Sie mit dem Kind nach [[Vereinbarungen]] suchen. Wenn Sie sich im obigen Beispiel nach dem Konflikt versöhnen konnten, können Sie schon beim nächsten Mal vorschlagen, wie Sie die Situation so organisieren, dass beide Seiten zufrieden sind (gut möglich, dass sogar das Kind von sich aus auf die Idee kommt!). Vereinbarungen beruhen, im Unterscheid zu einseitigen Abmachungen, auf Gegenseitigkeit, das Kind muss also mit seinen Vorschlägen einbezogen werden, sodass es die [[Verantwortung des Kindes|Verantwortung]] mittragen kann. Gehen Sie aber Konflikten nicht einfach aus dem Weg, indem Sie alles "mit Anstand besprechen und regeln" wollen, denn das Kind muss auch erfahren können, wie es ist, wenn es hart auf hart zu und hergeht. Kinder mit ihrem frisch erwachten Willen kennen anfangs nur "entweder oder", alle [[Differenzierungen]] und [[Relativierungen]] wären noch schlicht eine [[Überforderung des Kindes|Überforderung]].
 
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Wenn Sie [[Phasen der Erziehung|in den ersten Jahren]] gelernt haben, das Kind grundsätzlich und immer selbst entscheiden zu lassen, werden Sie es von nun an umso einfacher haben. Denn das Kind konnte lernen, Verantwortung zu übernehmen und mit den Konsequenzen seiner Entscheide umzugehen. So können Sie mehr und mehr mit dem Kind auf Augenhöhe regeln. Ein hervorragendes Übungsfeld dafür ist das [[Taschengeld]]. Dabei geht es nicht bloss um das Aushandeln der Höhe, sondern vielmehr darum, gemeinsam festzulegen, welche Posten vom Kind beziehungsweise vom Jugendlichen aus dem Taschengeld zu finanzieren sind. Das kann sehr schnell sehr anspruchsvoll werden und es bleibt Ihnen immer noch die Verantwortung, gelegentlich zu prüfen, ob der Jugendliche damit nicht überfordert ist (wenn er zum Beispiel noch nicht abschätzen kann, wieviel er zur Seite legen muss, um Kleider und Schuhe finanzieren zu können). Und Sie müssen vielleicht auch damit leben können, dass ihm der Ausbau des Fahrrads sehr viel mehr wert ist als eine "anständige" Mahlzeit.
 
Lassen Sie Ihre Kinder auch möglichst die [[Schulwahl|Schule]], die [[Freizeit|Freizeitaktivitäten]] und die [[Kameradschaft|Kameraden]] frei wählen. Selbstverständlich können Sie die Wahl erhärten, indem Sie nach den Kriterien der Entscheide fragen. Doch besser als ein "richtiger" oder "falscher" Entscheid ist immer ein eigener Entscheid! Denn damit übergeben Sie auch die [[Verantwortung]]. Die meisten Kinder werden übrigens in ihrer Urteilsfähigkeit eher [[Unterforderung|unter-]] als [[Überforderung des Kindes|überschätzt]]. Je früher Sie dem Kind Verantwortung abtreten, desto besser lernt es, seinem [[Gespür des Kindes|Gespür]] zu folgen und seine [[Intuition]] zu entwickeln.
 
Auch beim allgemeinen Familienleben können Sie Ihre Kinder natürlich miteinbeziehen. Beim Thema [[Urlaub]] oder der [[Wohnungswahl]] ist das schon aus eigenem Interesse besonders zu empfehlen: Sie werden die Wohnung oder der Urlaub nur dann geniessen können, wenn sich auch die Kinder wohl fühlen, ansonsten kann es für alle schnell zur Qual werden! Eine [[Gratwanderung]] zwischen der Entscheidungsfreiheit des Kindes und Ihrem [[Verantwortung der Eltern|Verantwortungsbewusstsein]] werden Sie erleben, wenn die Kinder lieber allein zu Hause bleiben wollen, statt mit Ihnen zum Beispiel einzukaufen oder zu einem Besuch zu fahren. Entscheidend wird dann sein, ob es Ihnen in den ersten [[Phasen der Erziehung]] gelungen ist, mit dem Kind [[Abmachungen]] und [[Vereinbarungen]] zu treffen, auf deren Einhaltung Sie sich nun verlassen können.
 
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==Entscheidungen und Konsequenzen==
Wenn das Kind schon selbst entscheidet, sollten Sie ihm auch die [[Konsequenzen für das Kind|Konsequenzen]] überlassen, und zwar gleich von Anfang an. Wenn es zum Beispiel unbedingt seine neue Lokomotive mit zum Besuch bei Freunden mitnehmen will, können Sie es ruhig lassen, wenn Sie von ihm auch [[Forderungen der Eltern|fordern]], dass es die Lok selbst trägt (zum Beispiel in seinem Rucksack) und sich dafür verantwortlich fühlt (also den Rucksack auch hin und zurück trägt). Überhaupt ist der [[Rucksack]] ein wunderbares Übungsobjekt: Er gehört dem Kind allein und es kann mitnehmen, so viel es Platz hat, das Kind ist aber auch allein für ihn [[Verantwortung des Kindes|verantwortlich]].
 
Beim [[Taschengeld]] verhält es ähnlich: Lassen Sie das Kind selbst entscheiden, für was es das Geld ausgibt (oder nach Ihrer Meinung auch [[Verprassen|verprasst]]): Das Kind muss erfahren können, wie es ist, wenn es schon Mitt Woche nichts mehr hat. Sie sind einzig dafür verantwortlich zu prüfen, ob sich das Kind damit überfordert fühlt (weil es zum Beispiel die Taschengeld-Periode eines Monats noch nicht überblicken kann).
 
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* [[Wille]]
* [[Freiheit]]
* [[Nein|"Nein"]]
* [[Respekt]]
* [[Selbständigkeit]]
 
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{{VertrauenGrenzen}}
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Aktuelle Version vom 14. Mai 2022, 10:40 Uhr


Entscheiden ist eine der wesentlichsten Funktionen des Menschen überhaupt und Ausdruck des (freien) Willens. Das Ziel des Menschen sollte idealerweise sein, dass er möglichst frei und bewusst entscheiden kann. Dieses hehre Ziel geht natürlich weit über die Erziehung hinaus und stellt sich auch längst nicht jedem Mensch. Immerhin können Sie als Eltern in den ersten Jahren des Kindes mehr oder weniger gute Voraussetzungen dafür schaffen.

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Schwangerschaft und Geburt

Ob das Kind seine Eltern auswählt oder nicht, ist mehr eine philosophische, spirituelle oder gar religiöse Frage, die für die Erziehung kaum relevant ist. Auf jeden Fall aber beginnt das Leben des Kindes mit einem gewichtigen Entscheid, nämlich auf die Welt zu kommen. Es ist das Kind, das den Zeitpunkt seiner Geburt bestimmt (inwiefern sich künstliche Eingriffe wie Kaiserschnitt auf die Psyche des Kindes auswirken, ist eine andere Frage). Schon allein diese Tatsache sollte Ihnen als Leitlinie dafür dienen, dass Kinder grundsätzlich alles selbst entscheiden können, ganz unabhängig davon, wie gross die Tragweite des Entscheids ist (selbstverständlich mit dem Vorbehalt, dass Sie bei wirklichen Gefahren eingreifen müssen).

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Vertrauensbildung (bis etwa 2 Jahre)

Während der Phase der Vertrauensbildung ist der Wille des Kindes noch auf seinen Lebenswillen beschränkt: Alles, was das Kind entscheidet, entscheidet es im Hinblick auf sein Überleben. Oder anders ausgedrückt: es geht ausschliesslich um seine Grundbedürfnisse. Sie dürfen deshalb alles, was das Kind selbst entscheiden mag, ihm überlassen! Ganz gleich, ob es gestillt oder gehalten werden will, schlafen oder spielen will: sagen Sie "Ja" zu ihm und vertrauen Sie ihm, dass es das tut oder lässt, was für das Kind stimmt. In diesem Alter dürfen, ja sollen Sie das Kind verwöhnen.

Sie müssen bloss vorsichtig sein, wenn es um die Kehrseite des allgemeinen Wohlstands geht, also um Reizüberflutung, Überfluss oder gar um wirkliche Gefahren geht. Das gilt zum Beispiel für sogenannte "Auswahlsendungen": Wenn Sie einem Kleinkind einen Ball schenken wollen, ist es vollkommen unnötig, ihm zehn verschiedene Bälle zur Auswahl hinzuhalten, es wäre damit schlicht überfordert. Gehen Sie alleine in den Laden und suchen Sie selbst einen aus (und vermeiden Sie zudem, dass der Ball auch noch bunt bemalt ist: Der Ball für sich allein wird dem Kind völlig genügen, alles weitere wäre kontraproduktiv!). "Auswahlsendungen" können in diesem Alter Begehrlichkeiten provozieren, die nichts mehr mit den Grundbedürfnissen zu tun haben. Wenn das Kind aber eh schon dabei ist und von sich aus einen bestimmten Ball aussucht, dürfen Sie es natürlich selbst auswählen lassen, wenn es mag.

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Willensbildung (etwa 2 bis 4 Jahre)

Wenn das Kind beginnt seinen Willen zu entwickeln, in der Regel etwa im dritten Lebensjahr, nimmt auch seine Entscheidungskraft eine ganz neue Dimension an: es will sich nun mit seiner ganzen, ihm zur Verfügung stehenden Kraft durchsetzen und etwas erreichen, das weit über die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse geht. Das ist zunächst ein Zeichen der gesunden Entwicklung! Es ist aber auch offensichtlich, dass seine Entscheide mit denen Anderer, insbesondere seiner Eltern, kollidieren kann. Als Eltern müssen Sie sich in diesem Moment erstens klar sein, was Sie selbst überhaupt wollen und zweitens ob Sie den Entscheid des Kindes hinnehmen wollen oder nicht. Wenn das Kind zum Beispiel auf dem Spaziergang unbedingt noch weitere Steine aufheben und betrachten will, während Sie schon weitergehen wollen, müssen Sie sich zuerst fragen, ob Sie sich in Geduld üben wollen oder ob Sie dabei zu frieren beginnen und deshalb dringend weitergehen wollen. Wollen Sie weitergehen und können das Kind trotz gutem Zureden nicht zum mitkommen bewegen, können Sie die Situation eskalieren lassen, wobei es verschiedene Möglichkeiten gibt:

  • Sie gehen weiter und das Kind kümmert sich nicht darum: Nun müssen Sie entscheiden, inwiefern Sie das allenfalls damit verbundene Risiko verantworten können: Je nach Situation kann das natürlich sehr schnell gefährlich werden, sodass Sie trotzdem etwas weiter ab warten müssen.
  • Sie gehen weiter und das Kind beginnt zu toben (entweder aus Wut, weil es sich nicht durchsetzen kann oder sich von Ihnen vernachlässigt fühlt oder schlicht, weil es sich allein ängstigt). In diesem Falls müssen Sie warten, ansonsten Sie das Kind verlassen würden (etwas vom Schlimmsten, das ihm geschehen kann!). Warten Sie beim Kind, bis es ich beruhigt hat und bereit ist, sich mit Ihnen zu versöhnen. Das braucht zwar auch Zeit, lohnt sich der auf jeden Fall (im übrigen wird es die Steine nach überstandenem Tobsuchtsanfall mit grösster Wahrscheinlichkeit bereits wieder vergessen haben, vielleicht aber auch in aller Ruhe über den Konflikt sprechen können)!
  • Keinesfalls dürfen Sie das Kind einfach packen und wegtragen, das wäre ein Machtmissbrauch, der sich schon bald, spätestens aber wenn das Kind etwas kräftiger ist, als äusserst kontraproduktiv herausstellen würde! Denn auch das "Nein!" des Kindes ist zu respektieren, ansonsten es ziemlich illusorisch wird, wenn Sie es umgekehrt von ihm verlangen.

Die Phase der Willensbildung wird selten ohne Konflikte zwischen Eltern und Kind über die Bühne gehen. Das braucht sie aber auch gar nicht, denn die Auseinandersetzung ist dazu da, dass beide lernen können: Die Eltern müssen lernen, dem Kind konsequent "Nein!" zu sagen und das Kind erfährt, dass es zwar selbst entscheiden darf, seine Entscheide aber auch auf Widerstand treffen können. Dieser Widerstand kann zwar leidvoll sein, er schafft aber auch Kontakt und somit Beziehung. Und die Versöhnung zeigt dem Kind, dass es "trotzdem" geliebt wird.

Auseinandersetzungen können durchaus auch kooperativ und konstruktiv erfolgen, indem Sie mit dem Kind nach Vereinbarungen suchen. Wenn Sie sich im obigen Beispiel nach dem Konflikt versöhnen konnten, können Sie schon beim nächsten Mal vorschlagen, wie Sie die Situation so organisieren, dass beide Seiten zufrieden sind (gut möglich, dass sogar das Kind von sich aus auf die Idee kommt!). Vereinbarungen beruhen, im Unterscheid zu einseitigen Abmachungen, auf Gegenseitigkeit, das Kind muss also mit seinen Vorschlägen einbezogen werden, sodass es die Verantwortung mittragen kann. Gehen Sie aber Konflikten nicht einfach aus dem Weg, indem Sie alles "mit Anstand besprechen und regeln" wollen, denn das Kind muss auch erfahren können, wie es ist, wenn es hart auf hart zu und hergeht. Kinder mit ihrem frisch erwachten Willen kennen anfangs nur "entweder oder", alle Differenzierungen und Relativierungen wären noch schlicht eine Überforderung.

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Sozialisation bis Pubertät (etwa 4 bis 16 Jahre)

Wenn Sie in den ersten Jahren gelernt haben, das Kind grundsätzlich und immer selbst entscheiden zu lassen, werden Sie es von nun an umso einfacher haben. Denn das Kind konnte lernen, Verantwortung zu übernehmen und mit den Konsequenzen seiner Entscheide umzugehen. So können Sie mehr und mehr mit dem Kind auf Augenhöhe regeln. Ein hervorragendes Übungsfeld dafür ist das Taschengeld. Dabei geht es nicht bloss um das Aushandeln der Höhe, sondern vielmehr darum, gemeinsam festzulegen, welche Posten vom Kind beziehungsweise vom Jugendlichen aus dem Taschengeld zu finanzieren sind. Das kann sehr schnell sehr anspruchsvoll werden und es bleibt Ihnen immer noch die Verantwortung, gelegentlich zu prüfen, ob der Jugendliche damit nicht überfordert ist (wenn er zum Beispiel noch nicht abschätzen kann, wieviel er zur Seite legen muss, um Kleider und Schuhe finanzieren zu können). Und Sie müssen vielleicht auch damit leben können, dass ihm der Ausbau des Fahrrads sehr viel mehr wert ist als eine "anständige" Mahlzeit.

Lassen Sie Ihre Kinder auch möglichst die Schule, die Freizeitaktivitäten und die Kameraden frei wählen. Selbstverständlich können Sie die Wahl erhärten, indem Sie nach den Kriterien der Entscheide fragen. Doch besser als ein "richtiger" oder "falscher" Entscheid ist immer ein eigener Entscheid! Denn damit übergeben Sie auch die Verantwortung. Die meisten Kinder werden übrigens in ihrer Urteilsfähigkeit eher unter- als überschätzt. Je früher Sie dem Kind Verantwortung abtreten, desto besser lernt es, seinem Gespür zu folgen und seine Intuition zu entwickeln.

Auch beim allgemeinen Familienleben können Sie Ihre Kinder natürlich miteinbeziehen. Beim Thema Urlaub oder der Wohnungswahl ist das schon aus eigenem Interesse besonders zu empfehlen: Sie werden die Wohnung oder der Urlaub nur dann geniessen können, wenn sich auch die Kinder wohl fühlen, ansonsten kann es für alle schnell zur Qual werden! Eine Gratwanderung zwischen der Entscheidungsfreiheit des Kindes und Ihrem Verantwortungsbewusstsein werden Sie erleben, wenn die Kinder lieber allein zu Hause bleiben wollen, statt mit Ihnen zum Beispiel einzukaufen oder zu einem Besuch zu fahren. Entscheidend wird dann sein, ob es Ihnen in den ersten Phasen der Erziehung gelungen ist, mit dem Kind Abmachungen und Vereinbarungen zu treffen, auf deren Einhaltung Sie sich nun verlassen können.

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Entscheidungen und Konsequenzen

Wenn das Kind schon selbst entscheidet, sollten Sie ihm auch die Konsequenzen überlassen, und zwar gleich von Anfang an. Wenn es zum Beispiel unbedingt seine neue Lokomotive mit zum Besuch bei Freunden mitnehmen will, können Sie es ruhig lassen, wenn Sie von ihm auch fordern, dass es die Lok selbst trägt (zum Beispiel in seinem Rucksack) und sich dafür verantwortlich fühlt (also den Rucksack auch hin und zurück trägt). Überhaupt ist der Rucksack ein wunderbares Übungsobjekt: Er gehört dem Kind allein und es kann mitnehmen, so viel es Platz hat, das Kind ist aber auch allein für ihn verantwortlich.

Beim Taschengeld verhält es ähnlich: Lassen Sie das Kind selbst entscheiden, für was es das Geld ausgibt (oder nach Ihrer Meinung auch verprasst): Das Kind muss erfahren können, wie es ist, wenn es schon Mitt Woche nichts mehr hat. Sie sind einzig dafür verantwortlich zu prüfen, ob sich das Kind damit überfordert fühlt (weil es zum Beispiel die Taschengeld-Periode eines Monats noch nicht überblicken kann).

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Weiterführende Themen

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Übergeordnetes Thema

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Fragen und Feedback

Das "Zweimalzwei der Erziehung" ist zum Teil noch im Aufbau. Allfällige Fragen oder Feedback sind willkommen: Email


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